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 EUROPA IM ZEICHEN DER ERWEITERUNG DER EUROPÄISCHEN UNION
EUROPA IM ZEICHEN DER ERWEITERUNG DER EUROPÄISCHEN UNION
Dr. Andreas-Renatus Hartmann
25. April 2003
Pskow (Russland)
Wenn mir jemand vor 20 Jahren, als ich meine Arbeit bei der Europäischen Union in Brüssel begann, gesagt hätte, dass am 1. Mai 2004 eine Republik des damaligen Jugoslawiens, vier Staaten des damaligen Warschauer Paktes und sogar drei Republiken der damaligen Sowjetunion der EU beitreten würden, dann hätte ich diese Person damals als einen nicht ernst zu nehmenden Träumer bezeichnet.
Und doch ist es genau dieses Szenario, das in einem Jahr mit dem Beitritt von Slowenien, Ungarn, der Slowakei, der Tschechischen Republik, Polens, Litauens, Lettlands und Estlands - ergänzt durch Malta und Zypern - Wirklichkeit werden wird.
Die letzten entscheidenen Etappen dieses größten Erweiterungsprozesses der Europäischen Union sind in den letzten Tagen und Wochen erfolgreich zurückgelegt worden: Bereits im Dezember waren auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen die Verhandlungen mit den 10 Beitrittskandidaten abgeschlossen worden. Am 9. April hatte dann das Europäische Parlament das Verhandlungsergebnis gebilligt. Und am Mittwoch letzter Woche wurden schliesslich in Athen von den Staats- und Regierungschefs der 15 heutigen und der 10 künftigen Mitgliedstaaten die Beitrittsverträge unterzeichnet.
Diese neue Union - so heißt es in der Abschlusserklärung des Athener Gipfels - "steht für unsere gemeinsame Entschlossenheit, der jahrhundertelangen Zerstrittenheit ein Ende zu setzen und die früheren Trennungslinien auf unserem Kontinent hinter uns zu lassen". Der deutsche Bundeskanzler erklärte, die Osterweiterung der Union setze "die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung fort und vollendet den Auftrag der Gründungsväter." Der Präsident Frankreichs schließlich sprach "von einem Tag, an dem sich einer unserer größten Wünsche erfüllt". Das bisherige Europa - so Jacques Chirac - war "nur ein halbes Europa, das seinen Namen nur zur Hälfte verdiente, solange der anderen Hälfte seiner Völker der Zutritt verwehrt war."
Was aber ist nun dieses neue und größere Europa, das sich im kommenden Jahr bis an die Stadtgrenzen von Pskow erstrecken wird? Auf der Landkarte erreicht die künftige EU mit nahezu 4 Millionen km2 ein beeindruckendes Ausmaß, das in etwa der Größe des indischen Subkontinents entspricht. Mit ihren 450 Millionen Einwohnern ist sie mehr als drei Mal so groß wie die Russische Föderation. Und mit ihrer Wirtschaftsleistung wird die künftige Union sogar die USA überholt haben.
Manche bei uns im Westen, die ihrer Zeit weit voraus sind, haben sich von diesem, in der Tat beeindruckenden äußeren Erscheinungsbild der EU dazu verleiten lassen, das heutige Europa bereits auf dem Weg zu einer Weltmacht, zu einem "Europe puissance" zu sehen.
Andere, diesmal im Osten unseres Kontinents, die ihrer Zeit weit hinterherhinken, haben sich von demselben äußeren Erscheinungsbild so erschrecken lassen, dass sie glauben, in der Osterweiterung der EU eine gezielte Einkreisungspolitik Kaliningrads sehen zu müssen.
Beiden Seiten ist dabei entgangen, dass der geografische Riese EU, trotz aller Erfolge in der Wirtschafts- und Währungspolitik, im Bereich der klassischen Machtpolitik mehr oder weniger ein Zwerg geblieben ist. Und daran - so meine Prognose - wird auch die Erweiterung der EU um zehn neue Staaten nichts wesentliches ändern. Im Gegenteil. Ist doch bereits jetzt zu erkennen, dass die neu hinzutretenden Länder mit der Vision einer sich immer weiter verdichtenden Integration wenig anzufangen wissen. Diese Vision einer immer weitere Politikfelder einbeziehenden Integration war jedoch die Leitidee der Politiker gewesen, die in den 50er Jahren den europäischen Einigungsprozess angestoßen hatten. Ausgehend von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes sollte der Weg Europas über eine Wirtschafts- und Währungsunion bis hin zum Endziel einer Politischen Union gehen, in der es nur noch eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik geben würde.
Mit diesem Auftrag, dem jahrundertelangen europäischen Bürgerkrieg ein für alle Mal ein Ende zu setzen, waren Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande am Ende des 2. Weltkriegs gemeinsam angetreten. Europa - so waren sich die Gründerväter der Europäischen Union von Adenauer über Schuman bis hin zu Degasperi einig gewesen - sollte endlich Frieden mit sich selbst schließen und dadurch von einem Objekt und Spielball raumfremder Mächte endlich wieder zu einem Subjekt und Akteur der Weltgeschichte werden.
Diese Reisepläne und vor allem das endgültige Reiseziel wurden jedoch von den meisten der später der EU beitretenden Staaten nur höchst eingeschränkt geteilt. Den Handelsnationen Großbritannien und Dänemark, die sich in den 70er Jahren der EU anschlossen, ging es im wesentlichen um den Beitritt zu einem gemeinsamen Binnenmarkt, in dem sie ihre Produkte uneingeschränkt absetzen konnten. Die wirtschaftlich unterentwickelten Mittelmeerstaaten, die in den 80er Jahren beitraten, erhofften sich vor allem Wohlstand und Zugang zu den wirtschaftlichen Förderprogrammen der Union. Die neutralen skandinavischen Staaten, die in den 90er Jahren dazustießen, sahen in ihrem Beitritt in erster Linie eine Chance, aus ihrer geopolitischen Randlage herauszukommen und wieder Anschluss an das europäische Geschehen zu finden.
Bis auf ganz wenige Ausnahmen, zu denen ich z.B. Österreich zählen würde, ging es jedoch keinem dieser Neuankömmlinge um die Teilnahme an einem politischen Projekt wie es die Gründerväter der EU am Anfang ins Stammbuch geschrieben hatten.
Insofern war es alles andere als eine Überraschung als sich zahlreiche dieser Trittbrettfahrer bereits auf den ersten Zwischenstationen der Reise verabschiedeten und z.B. die europäische Sozialpolitik nicht übernahmen, beim Schengener-Abkommen über den Schutz der Außengrenzen der EU nicht mitmachten oder die Einführung des Euros als gemeinsame europäische Währung ablehnten. Folge dieses unsolidarischen Verhaltens war, dass sich die Europäischen Union wie ein Geleitzug immer mehr in die Länge zog, mit einer Spitzengruppe, die immer ungeduldiger vorwärts drängte, einem Hauptfeld, das immer langsamer wurde und einer Nachzüglergruppe, die immer weiter zurückblieb.
Mit der anstehenden neuen Erweiterung der Europäischen Union besteht nun zum ersten Mal in der Geschichte der EU die ernsthafte Gefahr, dass der Zug namens Europa in einzelne Waggons auseinanderfällt oder vielleicht sogar in seiner Gesamtheit entgleist.
Auslöser für die derzeitige Krise ist der Irakkrieg und die damit verbundene Frage nach den Beziehungen der EU und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten zu den USA.
Die unterschiedlichen Positionierungen in dieser Frage haben dazu geführt, dass Europa heute in zwei klar voneinander getrennte Lager zerfallen ist:
Auf der einen, uneingeschränkt pro-amerikanischen Seite stehen die Länder des vom amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld so genannten "Neuen Europas", zusammengesetzt aus dem geografischen Rand der EU und den künftigen EU-Mitgliedstaaten aus dem Osten des Kontinents. Auf der anderen Seite steht das "Alte Europa", gebildet aus den Gründerstaaten der EU, das sich um den deutsch-französischen Pol kristallisiert und dessen Ziel die Rückkehr Europas als eigenständiger politischer Akteur in die Weltpolitik ist.
Diese erneute Spaltung Europas ist mit Sicherheit äußerst bedauerlich. Andererseits kommt ihr der Verdienst zu, endlich die entscheidende Frage auf die Tagesordnung der EU gebracht zu haben, die bei allen bisherigen Erweiterungen immer wieder unter den Tisch gekehrt worden war, nämlich die Frage nach der Lebensfähigkeit einer sich ständig erweiternden Union und vor allem die Frage nach ihrer Finalität.
Über alles Mögliche hatten wir in Brüssel in den vergangenen fünf Jahren mit den zehn Beitrittskandidaten gesprochen. Überaus detaillierte Verhandlungen waren es gewesen. Der gesamte Bestand der EU-Gesetze in einem Umfang von insgesamt 80 000 Seiten musste Kapitel für Kapitel mit den Kandidatenländern durchgegangen werden und von ihnen anschließend in ihr nationales Recht umgesetzt werden. Zusätzlich wurde von ihnen die Umstellung ihres gesamten politischen und wirtschaftlichen Systems auf die europäischen Werte- und Normvorstellungen verlangt: vom Schutz der Menschenrechte, über das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, den Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten und die Garantie der Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Einführung der Marktwirtschaft und der Schaffung konkurrenzfähiger und auf dem EU-Markt überlebensfähiger Betriebe. Alles zusammen genommen eine noch nie dagewesene Herausforderung in der Geschichte der Erweiterungen der EU, die von beiden Seiten jedoch mit Bravour bewältigt wurde.
Nur über eine Sache hatte man in all diesen Jahren harter Arbeit so gut wie nie miteinander gesprochen, nämlich über die Finalität des gemeinsamen Projekts "Europäische Union".
Dieses Versäumnis ist allerdings so neu nicht und hat sogar - leider - Methode: War doch bereits bei der ersten Erweiterung der EU um Großbritannien vor mehr als 30 Jahren vom damaligen belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans bezeichnenderweise beklagt worden: "Wir haben über vieles gesprochen, nur nicht über das Wesentliche, was wir nämlich nun gemeinsam miteinander tun wollen."
Es ist dieses jahrzehntealte Versäumnis eines ehrlichen und offenen Dialogs, was sich nun im Angesicht des Irakkrieges rächt und für Überraschungen und schmerzhafte Spaltungen sorgt. Insofern schlägt mit dem Einmarsch der anglo-amerikanischen Truppen in den Irak auch für die Europäische Union die Stunde der Wahrheit, in der sich - integrationspolitisch gesprochen - die nationale Spreu vom europäischen Weizen trennen wird: Der Teil der Europäer, der mit der Integration nicht über eine kontinentale Freihandelszone hinausgehen will, wird auch in Zukunft sein Heil entweder im nationalen Alleingang oder in transkontinentalen Interessenkoalitionen suchen. Der andere Teil der Europäer, der die EU als ein noch lange nicht vollendetes politisches Projekt versteht, wird jetzt auch die Bereiche der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zügig und umfassend integrieren wollen und mit allen Gleichgesinnten eine vollintegrierte europäische Schicksalsgemeinschaft anstreben.
Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen hier mitteile, dass genau dieser verteidigungs- und sicherheitspolitische Zusammenschluss derzeit in Brüssel ausgiebig diskutiert und vorbereitet wird.
Die Betreiber dieser Initiative sind vier der sechs Gründerstaaten der Europäischen Union, nämlich Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland, deren Staats- und Regierungschefs sich am Dienstag der kommenden Woche in Brüssel treffen werden, um die Gründung einer "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion" zu beschließen.
Spitzenbeamte der vier Regierungen hatten bereits Mitte dieses Monats bei einem Treffen erste Arbeitspapiere für den Gipfel zusammengeführt. Dabei wurde deutlich, dass die am weitesten gehenden Vorschläge für die angestrebte neue Union von der belgischen Regierung kommen. Dort will man offensichtlich nicht noch länger warten, bis sich die EU in zwei bis drei Jahren eine neue Verfassung gibt, die dann möglicherweise eine engere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich vorsieht. Angesichts der aktuellen Ohnmacht der Fünfzehnergemeinschaft -so heißt es im Mitarbeiterstab des belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt - sei die Gründung einer handlungsfähigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion dringend geboten und müsste sofort in Angriff genommen werden. Belgien fordert daher die zügige Einrichtung eines militärischen Hauptquartiers und eines Generalstabs in oder bei Brüssel. Die von dort aus geführten Truppen - so die Belgier - müssten eigenständiger sein, als die im Aufbau befindliche EU-Eingreiftruppe. Erste Elemente dieser EU-Truppe werden zwar derzeit bereits in Mazedonien eingesetzt. Sie werden jedoch nicht autonom von der EU geführt. Die Planung und Durchführung ihres Einsatzes erfolgt vielmehr durch das Hauptquartier der NATO. Die Einsätze der neuen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion sollen dagegen von einem eigenen Hauptquartier aus geführt werden. Wobei die belgische Regierung den Aktionsraum dieses Bündnisses bewusst nicht auf Europa begrenzt, sondern sich Militäreinsätze auch in anderen Teilen der Welt, wie z.B. in Afrika vorstellen kann. Als Datum für die Einsatzbereitschaft des neuen Hauptquartiers und des Generalstabs nennen die Belgier den 1. Mai 2004, also denselben Tag, an dem auch die Erweiterung der Europäischen Union in Kraft treten soll.
Unterstützung für die Idee eines engeren Zusammengehens in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kam in den letzten Tagen auch vom Europäischen Parlament.
Die Volksvertreter der Europäischen Union sprachen sich auf ihrer April-Sitzung in Straßburg mit 275 gegen 96 Stimmen bei 11 Enthaltungen für eine "neue europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur" aus. Stärkere militärische Anstrengungen, einschließlich höherer Verteidigungsausgaben, - so heißt es in der Entschließung - seien die notwendige Voraussetzung, wenn die EU "ein glaubwürdiger Akteur auf der internationalen Bühne und ein freier Partner der Vereinigten Staaten" werden wolle. Dabei müsse es Gruppen von Mitgliedstaaten möglich sein, schneller voranzuschreiten als die EU insgesamt, auch wenn es weiterhin Ziel bleiben müsse, eine breite Mehrheit für militärische Operationen sicherzustellen. Im Hinblick auf die Initiative der vier Gründerstaaten unterstreicht das Parlament sein Interesse und drückt seine Hoffnung aus, dass sich weitere EU-Staaten dieser Initiative anschließen.
Eine Hoffnung, die auch von der deutschen Bundesregierung geteilt wird, die im übrigen nicht weniger integrationsfreundlich als die Belgier und das Europäische Parlament dastehen will und daher vorschlägt, die deutsch-französische Brigade zum Kern der Truppenverbände der neuen Verteidigungsunion zu machen.
Europa wird durch diese neue Union und die neue Erweiterung sicherlich nicht übersichtlicher. Im Gegenteil. Es wird noch komplexer, noch komplizierter und teilweise sogar noch gegensätzlicher werden. Die Zeit, wo man sich die Europäische Union als einen monolithischen Block vorstellen konnte, sind damit endgültig vorbei. In der Stunde der Wahrheit fallen die Masken. Auch in der Europapolitik. Europa zeigt heute - ausgelöst durch die neue Erweiterung und beschleunigt durch den Irakkrieg - sein wahres Gesicht. Es ist das Gesicht seiner kulturellen, historischen und politischen Vielfalt.
Ich bin überzeugt, dass in diesem Europa der Vielfalt auch Russland, seine Kultur, seine Wirtschaft, seine Wissenschaft und seine Armee einen herausragenden Platz finden werden und könnte mir vorstellen, dass die neue Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion für die ersten Schritte Russlands in diese Richtung den geeigneten Rahmen abgeben wird.
Dr. Andreas Renatus Hartmann, Pskow (Russland), 25. April 2003.


17, juillet 2006
 
 
 
 
 
 
 

 

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