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 Die russische Aussenpolitik und die Beziehungen
Die russische Aussenpolitik und die Beziehungen
EU-Russland aus Brüsseler Sicht
Dr. Andreas-Renatus Hartmann
Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung
am 26.04.2002 in Pskow (Russland)

Russland und die EU haben lange Zeit aneinander vorbeigeredet. In Brüssel hatte das damit zu tun, dab man dort bis vor kurzem genug mit sich selbst zu tun hatte: mit dem Aufbau des Gemeinsamen Binnenmarkts, der Einführung der gemeinsamen Währung und in den letzten Jahren vor allem mit dem Prozeb der Erweiterung der Europäischen Union. Statt sich intensiv mit Russland zu beschäftigen und nach Formen einer dauerhaften Zusammenarbeit zu suchen, verlor man sich lieber in endlosen Diskussionen, wo Europa im Osten aufhöre, ob Russland noch dazu gehöre oder ob man nicht lieber doch an der Ostgrenze Polens mit der Erweiterung Schluß machen solle. Im Grunde waren viele in Brüssel eigentlich heilfroh, dab es sehr lange keine zwingende Notwendigkeit gab, sich mit dem Thema Russland ernsthaft zu beschäftigen.
Auf russischer Seite war der Blick auf den Nachbarn ähnlich ambivalent: Während des Kalten Krieges begriff man die damalige Europäische Gemeinschaft lediglich als die wirtschaftliche Komponente der US-amerikanischen Einkreisungspolitik, deren militärischen Teil die NATO darstellte. Selbst während der Entspannung und des Aufbaus bilateraler Wirtschaftsbeziehungen machte man sich in Moskau keine eingehenden Gedanken über die Natur und die Ziele der westeuropäischen Integration. Die Sowjetführung akzeptierte zwar die EG als objektive Realität, sah darin aber im Grunde wenig mehr als das westliche Gegenstück zum eigenen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Sie anerkannte allenfalls das Faktum, dab die Westeuropäer über die erfolgreichere Wirtschaftsgemeinschaft verfügten.
Trotz des fundamentalen innen- und aubenpolitischen Kurswechsels unter Gorbatschow und seiner Forderung nach einem "neuem Denken" und einem "Europäischen Haus" blieb der russischen Politik selbst bis weit in die 90er Jahre hinein die Natur und die Dynamik der westeuropäischen Integration weiter verborgen. Europa blieb in der sowjetischen Zeit wie in der Phase der Neukonstituierung Russlands in den Augen Moskaus eine von den USA abhängige Gröbe. Seine Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der westlichen Blockführungsmacht wurde als gering eingeschätzt.
So blieb denn auch der im Juni 1994 zwischen der EU und Russland ausgehandelte Vertrag über Partnerschaft und Kooperation hinter den Erwartungen zurück. Beide Seiten schienen damals mit dem Dokument wenig anzufangen zu wissen. Auf beiden Seiten fehlten schlichtweg die Kräfte und Visionen, um die darin angesprochenen Ziele zu verwirklichen.
Obwohl der Vertrag nicht sofort umgesetzt wurde, blieb das Kooperationsangebot Brüssels jedoch langfristig nicht ohne Wirkung. Zwar setzte es sich damals gegen die primär auf die USA fixierte Einstellung der russischen Führung nicht durch. Aber als die von den USA nach Russland exportierte Reformkonzeption des wilden und sozial indifferenten Kapitalismus scheiterte und dieses Scheitern in der Finanzkrise vom August 1998 seinen Höhepunkt erreichte, besann man sich plötzlich in Moskau auf die nach Osten ausgestreckte europäische Hand und begann, das EU-Wirtschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft als Alternative zum amerikanischen Weg zu entdecken und ernst zu nehmen.
Die sich seitdem in Russland entwickelnde Aussenpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie mehr und mehr reale wirtschaftliche Interessen des Landes zum Ausdruck bringt. Die imperialen Denkschablonen der Sowjetzeit werden in diesem Prozess Schritt für Schritt zurückgedrängt. Spätestens seit Putin die Macht im Kreml übernommen hat, ist die Ökonomisierung der Aussenpolitik Russlands eine eindeutige Realität geworden.
Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Transformation in Russland neue Gruppen und damit neue Ziele hervorgebracht hat. Damit wird der Richtungsstreit zwischen Westlern, Eurasiern und Isolationisten zwar nicht beigelegt, verliert aber an Schärfe.
Aller Vorraussicht nach wird der ideologisierte Teil der russischen Elite weiter an dem Konzept der Multipolarität festhalten und die russische Aussenpolitik wird wahrscheinlich weiter nach "Strategischen Partnern" Ausschau halten. Aber die Gefahr einer Schaukelpolitik, wie sie noch im Primakowschen Konzept der eurasischen geopolitischen Option tendenziell angelegt war, scheint mir gebannt. Ebenso dürfte - aus Brüsseler Sicht - von der heutigen russischen Aussenpolitik keine erhöhte Konflikt- oder Risikobereitschaft mehr zu erwarten sein: die sozialen und wirtschaftlichen Reformaufgaben, die es innenpolitisch zu bewältigen gilt, erlauben es Moskau ganz einfach nicht mehr, sich in aussenpolitische Abenteuer zu verstricken. Darin liegt die Erklärung des Geheimnisses der Putinschen Politik seit dem 11. September 2001.
Am Ende der Transformation hat sich in Moskau eine pragmatische Machtelite konstituiert. Dort hat sich nach den bitteren Erfahrungen der russischen Hilflosigkeit sowohl auf dem Balkan als auch bei der NATO-Erweiterung die Einsicht durchgesetzt, dass Moskau - um als Machtfaktor anerkannt zu werden - mehr braucht, als seinen Status als Nuklearmacht.
In der "Aussenpolitischen Konzeption der Russländischen Föderation" vom 10. Januar 2000 heisst es daher auch ganz eindeutig, dass es - unter den Bedingungen der Globalisierung - die Hauptaufgabe der russischen Aussenpolitik sei, die Entwicklung der russischen Wirtschaft und deren Integration in die Weltwirtschaft zu fördern.
Dabei wird den Beziehungen zur Europäischen Union eine Schlüsselfunktion eingeräumt.
Erstmals werden in dieser Konzeption die Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses in ihrer gesamten Dimension erkannt und aufgezeigt: von der EU-Osterweiterung, über die Einführung des Euro, die Herausbildung einer gemeinsamen aussen- und sicherheitspolitischen Identität bis hin zu den Bestrebungen der EU auch in der Verteidigung ein eigenes Profil zu gewinnen.
Im Dokument heisst es, dass die Russländische Föderation die "EU als einen ihrer wichtigsten politischen und ökonomischen Partner" betrachtet und alles daran setzen wird, um mit ihr "eine intensive und beständige Langzeit-Kooperation" einzugehen.
In der Tat weisen die neuesten Wirtschaftsdaten auf die zunehmende Relevanz der europäisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen hin:
So ist die EU inzwischen zum grössten Investor in Russland geworden. Mehr als 40 % des russischen Aussenhandels werden bereits mit der EU abgewickelt. Davon entfallen rund 45 % auf Energielieferungen - ein Prozentsatz, der angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen im Nahen Osten und dem Interesse der EU an einer sicheren Energieversorgung in Zukunft eher noch zunehmen wird. Bereits heute sind die EU-Staaten - und hier insbesondere Deutschland - eng mit der russischen Energiewirtschaft verknüpft. Die einschlägige Zusammenarbeit erreichte im Frühsommer 2000 eine neue, zukunftsweisende Qualität, als der deutsche Energiegigant Ruhrgas eine Kapitalbeteiligung bei Gazprom einging und seitdem im Vorstand von Gazprom ein Deutscher mit am Tisch sitzt.
Im Rahmen dieser fortschreitenden Investitions- und Handelsverflechtungen zwischen Russland und dem europäischen Kapital treten Statusfragen ebenso in den Hintergrund wie die penetrante Definitionsakrobatik, wo denn Europa ende, ob Russland noch dazu gehöre und ob und wann eine förmliche Assoziierung an die EU vorgenommen werden solle.
Darüber hinaus reagiert Russland auf die jüngsten Bemühungen der EU, eine eigene verteidigungspolitische Identität zu entwickeln, ausgesprochen positiv. Zwar gibt es auch in Moskau immer noch Zweifel am Gelingen des ehrgeizigen Projekts einer 60.000 Mann starken Europäischen Eingreiftruppe und ihrer Autonomie von den USA. Aber Russland hat bereits seine Bereitschaft signalisiert, mit der EU sowohl beim Krisenmanagement als auch bei friedensschaffenden Einsätzen operativ zusammenzuarbeiten. Damit wird die EU von Russland zum ersten Mal als global agierende politische Macht mit eigenen Interessen anerkannt.
Der Kurswechsel in der russischen Europapolitik ist sicher durch ein komplexes Zusammenwirken von vielen Faktoren und Ereignissen ausgelöst worden, die allesamt im Kontext der Finanzkrise vom August 1998 und des Kosowo-Krieges von 1999 zu suchen sind. Entscheidend war aber letztlich - aus meiner Sicht - die in Moskau endlich erfolgte Erkenntnis, es bei der EU mit einem mächtigen Integrationsimpuls zu tun zu haben, der zunehmend an innerer und äusserer Dynamik gewinnt.
Die Anzeichen mehren sich, dass die Attraktivität und Ausstrahlung des europäischen Integrationsprozesses inzwischen auch direkt auf Rußland und auf die russische Politik einwirken. Bereits heute - wie z.B. die Diskussion über die Zukunft Kaliningrads zeigt - strahlt die EU über die potentiellen Beitrittskandidaten wirtschaftlich und politisch in den post-sowjetischen Raum. Meine Prognose ist daher, daß schon in den nächsten Jahren ein zunehmend grösser werdender Teil Russlands ins Magnetfeld der europäischen Einigung kommen wird und unter denselben Anpassungsdruck und Transformationsszwang geraten wird wie derzeit z.B. die Tschechische Republik.
Was auch damit zu tun hat, dass Russland aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche nicht in der Lage ist, als ein eigener Kristallisationskern auf der östlichen Seite des Kontinents zu wirken.
Parallel zu dieser extern bedingten Ausrichtung Russlands auf den europäischen Integrationsprozess vollzieht sich intern in Russland die Formierung einer neuen politischen und wirtschaftlichen Machtelite. Diese neue Machtelite hat sich längst von den alten isolationistischen und imperialen Orientierungen verabschiedet und betreibt zielstrebig die Integration von bestimmten russischen Wirtschaftssektoren und geografischen Regionen in den EU-Markt und darüber hinaus in den Weltmarkt.
Die "Aussenpolitische Konzeption" und die zum selben Zeitpunkt vom damaligen Ministerpräsident Putin persönlich in Brüssel vorgestellte "Mittelfristige Strategie für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russländischen Föderation und der EU" sind Ausdruck der realistischen und pragmatischen Politikorientierung dieser Elite.
Diese Wirtschaftsgruppen verfolgen keine spezifischen aussenpolitischen Ziele und Interessen. Für sie reicht es aus, dass sie sich der russischen Aussenpolitik zur Realisierung und Absicherung ihrer eigenen Interessen pragmatisch bedienen können.
Wird die von Putin betriebene Ökonomisierung der russischen Aussenpolitik weitergeführt - und fast alles spricht dafür -, dann wird der Einfluss dieser Wirtschaftsgruppen, die sich zunehmend zu transnationalen Kooperationen formen, weiter zunehmen.
Zu dieser neuen Machtelite gehören neben den bereits angeführten Wirtschaftsgruppen aus den Brennstoff- und Rohstoffkomplexen auch einzelne Metropolen (wie Moskau) und russische Regionen (wie Karelien, Leningrad, Novgorod, die grossen Schwerindustriezentren des Urals und Zentralrusslands sowie die Wolga-Region). Aufgrund ihrer Grenzlage bzw. ihrer Wirtschaftsstrukturen, die bereits stark in den Weltmarkt integriert sind, schenken sie der Ausrichtung der russischen Aussenpolitik grosse Aufmerksamkeit, da davon ihre wirtschaftlichen Entwicklungschancen, d.h. ihre Exportmöglichkeiten sowie ihre Attraktivität für ausländische Investitionen direkt berührt werden.
Angesichts dieser neuen Entwicklungen wird die Region Pskow daher spätestens in zwei Jahren, wenn ihre Westgrenze mit einem Teil der EU-Ostgrenze zusammenfallen wird, vor die Wahl gestellt werden, ob sie sich weiter als Schild Rußlands gegenüber einem immer imaginärer werdenen Feind begreift oder ob sie sich an die große Zeit ihrer Verknüpfung mit den Handelsstraßen des europäischen Mittelalters besinnt und damit Rußland erneut - und diesmal endgültig - mit Europa verbindet.


17, juillet 2006
 
 
 
 
 
 
 

 

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