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 Der französiche Geopolitiker
Vision der Achse Paris - Berlin - Moskau

Der französische Geopolitiker Henri de Grossouvre
plädiert für ein europäisches Gegengewicht zu den USA

Charles Brant
Frankreichs Beziehung zu Europa hatte schon immer etwas Seltsames. Seit jeher war sie geprägt von der Angst, die Einzigartigkeit preiszugeben, sowie von einem teilweise insgeheimen, zum anderen erklärten Streben nach Hegemonie.
Die geographische Lage, die Frankreich zum "Fenster Europas" macht, koppelte sich mit politischem Ehrgeiz. Schnell erwuchs daraus die Ideologie eines Sonderweges und speiste die Neigung zur Dissidenz und die feindselige Haltung gegenüber dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Frankreich erklärte sich zur "geliebten Tochter der Kirche" und zur "Heimat der Menschenrechte". Es träumte davon, ein zweites Amerika, ein "Modellstaat" zu sein. Nicht nur die Revolutionskriege, auch die ihnen folgenden napoleonischen Eroberungsfeldzüge wurden im Namen dieser Ambition geführt. Noch heute bildet Frankreich sich ein, einen "universellen Auftrag" zu erfüllen, das Licht der Aufklärung in die Welt zu tragen.
Vor, während und nach der Revolution zeigte Frankreich sich seinen europäischen Nachbarn gegenüber beispiellos aggressiv. Sein Verhältnis zu seinen Nachbarn war von dem Bestreben bestimmt, das Haus Habsburg niederzuringen. Franz I., Ludwig XIV., Napoleon Bonaparte, Napoleon III. und Clemençeau, um nur sie zu nennen, waren besessen von diesem Ansinnen - und begünstigten oder vernachlässigten damit den Aufstieg Großbritanniens zur See- und Preußens zur Kontinentalmacht. Kaum war Preußen mächtig geworden, wurde es schon zum Gegner, wie der Krieg von 1870 zeigte. Um die Macht zu bekämpfen, die es jeweils als größte Bedrohung sah, war Frankreich bereit, die sonderbarsten Allianzen einzugehen. So verbündete es sich zu Zeiten Karls V. mit den Türken und im 19. Jahrhundert mit Rußland. Kaum minder bemerkenswert als dieses Bündnis zwischen der laizistischen Republik und dem autokratischen Zarenstaat waren die Verbindungen, die Frankreich zur Tschechoslowakei, Rumänien und Serbien pflegte. Aus Argwohn gegen eine zweite Kontinentalmacht liebäugelt Frankreich seit jeher mit der Vorstellung eines schwachen - oder gar geteilten - Deutschlands. So reichte Briand großmütig dem besiegten Deutschland Stresemanns die Hand - und de Gaulle der Adenauers -, aber Mitterrand mißtraute der deutschen Wiedervereinigung. Und wie es heute um die deutsch-französische Freundschaft bestellt ist, weiß niemand so recht: gegenseitiger Haß, Eifersucht, Gleichgültigkeit?
Momentan scheint Frankreich hin- und hergerissen zwischen der Erinnerung an seine vergangene Größe und dem Bestreben, ganz vorne an der europäischen Zukunft mitzuwirken. Die einen reden von Souveränismus, suchen nach Möglichkeiten, die "Stimme Frankreichs" zum Schallen zu bringen, und versteifen sich auf Fata Morganen wie "Lateineuropa", den "Mittelmeerraum" oder die "Weltsprache Französisch". Die anderen setzen ihre Hoffnung auf die Europäische Union und müssen enttäuscht feststellen, daß es ihr an Atem und Vision mangelt.
Genau an dieser Stelle hakt ein vor kurzem veröffentlichter Essay ein, dessen Autor, Henri de Grossouvre, waghalsig vorschlägt, diese Alternative zu überwinden und Frankreichs Zukunft in den kontinentalen Raum einzuschreiben. Der jüngste Sohn des Mitterrand-Vertrauten und Berater, François de Grossouvre, ist ein Geopolitiker, der nicht nur den deutschen Kulturkreis kennt - er wohnt in Wien -, sondern auch Zentraleuropa, das Baltikum und Rußland. Von den unerfreulichen Auswirkungen der amerikanischen Hegemonie ausgehend, stellt de Grossouvre fest, daß die Rivalität zwischen Europa und den USA von nun an der bestimmende Faktor in der Weltgeschichte sein wird. Die Interessen der Europäer und Amerikaner werden in Zukunft noch weiter auseinandergehen, während die Illusion einer transatlantischen Gemeinschaft sich vor allem durch Verwirrungen aufrechterhalten kann - etwa durch die Verwechslung zwischen der Nato und dem Verteidigungssystem der Europäischen Union.
Mit erstaunlicher Energie appelliert de Grossouvre an die Europäer, ihre blinde Gefolgschaft gegenüber den USA aufzugeben. Er betont, daß Europa über die Mittel verfügt, sich von den USA abzunabeln und "zu einem Zentrum der multipolaren Welt zu werden, das für Gleichgewicht und Frieden sorgt und der aus Washington betriebenen Kriegsmaschine Einhalt gebietet". Erreichen lasse sich dies jedoch nur, wenn die drei großen europäischen Völker - die Franzosen, die Deutschen und die Russen - sich zur Zusammenarbeit entschließen können. "In der Achse Paris - Berlin - Moskau", behauptet de Grossouvre, "liegt die einzige Hoffnung, die den Europäern noch bleibt".
Zur Unterstützung dieser These erinnert er an historische und kulturelle Affinitäten zwischen diesen drei Mächten sowie an ihre "parallelen Schicksale". Er führt ihre beachtlichen wirtschaftlichen Trumpfkarten an - nicht zuletzt das russische Erdöl -, wertet die Erfolge bisheriger Kooperationen aus und macht Vorschläge, für eine "strategische Partnerschaft". Chancen sieht er vor allem auf den Gebieten der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleuten bezeugt de Grossouvre nicht nur ein lebhaftes Interesse an Wladimir Putins Rußland, sondern verfügt auch über solide Kenntnisse der aktuellen deutsch-russischen Beziehungen.
De Grossouvre greift ausdrücklich auf gaullistisches Gedankengut zurück und macht kein Hehl aus seiner Sympathie für die Person und Positionen des Linksnationalisten und "Neojakobiners" Jean-Pierre Chevènements. Als Befürworter einer europäischen Konföderation lehnt er die "Auflösung Frankreichs" ab. Daß die Europäische Union in seinem Plädoyer für ein "anderes Europa" eine relativ geringfügige Rolle spielt, ist nicht weiter befremdlich.
Um so bedauerlicher ist General Gallois' Vorwort, das vor Germanophobie nur so strotzt. Ohne diese Behauptung überzeugend untermauern zu können, bezichtigt er Deutschland, alle hundert Jahre einen Krieg anzufangen, und macht es für die zwei Weltkriege verantwortlich. Solche Mißklänge sollten den Leser nicht taub machen für de Grossouvres Anliegen. Seine Worte zeugen von einer bemerkenswerten Entwicklung des französischen Denkens, die vom Souveränismus weg- und über die Bildung der Kontinentalachse zu einem Begriff Europas als Schicksalsgemeinschaft hinführt.
Charles Brant
Dezember 2002


17, juillet 2006
 
 
 
 
 
 
 

 

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