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 Zwei EU-Kommissare fordern eine Annäherung in der Etat- und Steuerpolitik und den Aufbau gemeinsamer Institutionen
Plädoyer für einen deutsch-französischen Bund
Zwei EU-Kommissare fordern eine Annäherung in der Etat- und Steuerpolitik und den Aufbau gemeinsamer Institutionen
21.01.2003
Wieder einmal stehen wir an einem Wendepunkt im europäischen Einigungsprozess. Mit der Erweiterung im Jahr 2004 umfasst die Union 25 Länder, bei ihren Anfängen vor über 50 Jahren dagegen waren es gerade einmal sechs. Damit die erweiterte Union erfolgreich arbeiten kann, muss sie sich mit der Verfassung, die der Konvent unter Vorsitz von Valéry Giscard d Estaing ausarbeitet, ein klares politisches Projekt und legitimierte Institutionen schaffen.So könnte in zwei Jahren ein mit sich selbst versöhntes und in gemeinsamen Zielvorstellungen vereintes Europa entstehen.
Ist diese Sichtweise überehrgeizig oder gar naiv? Nicht unbedingt. Mag es den Bedenkenträgern oder Skeptikern aller Couleur gefallen oder nicht, Europa hat sich immer schon schrittweise fortentwickelt. Immer schon folgten auf große Durchbrüche Stagnation oder gar Phasen mit Rückschlägen. Eines jedoch blieb konstant: die entscheidende Bedeutung der Allianz zwischen Deutschland und Frankreich. Ohne sie gerät Europa ins Stottern, mit ihr entwickelt es sich weiter.
Bekenntnis zu den Unterschieden
Hierfür gibt es einen wesentlichen Grund. Die deutsch-französische Allianz ist nicht etwa aus unseren Ähnlichkeiten geboren, sondern nährt sich gerade aus unseren Unterschieden. Auf den ersten Blick, so scheint es, trennt uns alles: unsere Geschichte mit ihren vielen Kriegen, unsere Sprachen, unsere ebenso reichen wie einzigartigen Kulturen, unsere politischen Strukturen, unsere Vorstellungen von Gesellschaft und Macht. Was uns jedoch einander annähert, ist das aus unserer historischen Erfahrung gespeiste Bewusstsein, dass die enge deutsch-französische Zusammenarbeit eine Notwendigkeit ist, um Frieden und Stabilität in Europa dauerhaft zu sichern.
Der berühmte deutsch-französische "Motor" bezieht seine Zugkraft aus der Fähigkeit, Kompromisse zu schmieden, in denen sich alle europäischen Länder wiederfinden können. Möglich ist das nur, weil es beiden Ländern durch politischen Willen und Dialog gelingt, gemeinsam über den jeweils eigenen Tellerrand hinauszublicken und so ein Verständnis für die europäische Vielfalt zu entwickeln.
Sicher hat in den letzten Jahren die Annäherung an Schwung eingebüßt. Unverständnis und Streitereien lösten Misstrauen aus. Die Franzosen fürchteten, in einer erweiterten Union an den Rand gedrängt zu werden, und die Deutschen mahnten eine gerechtere Teilung der (finanziellen) Lasten an.
Ist diese Entwicklung unvermeidlich? Muss man einfach akzeptieren, dass die deutsch-französischen Beziehungen vor sich hinkränkeln? Diese Auffassung teilen wir nicht. Ein Europa, das wächst, braucht sowohl einen besser durchtrainierten Körper - für den muss die vom Konvent ausgearbeitete neue Verfassung sorgen - als auch ein kräftigeres Herz. Dafür muss die notwendige Erneuerung der deutsch-französischen Allianz sorgen. Beide Voraussetzungen sind unabdingbar, wenn die Verwässerung des Projekts Europa vermieden werden soll. Der 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags wird positive Initiativen auslösen, mit denen die Zusammenarbeit gestärkt werden kann. Doch das ist nicht genug. Die Zeiten für Veränderungen im Millimeterbereich sind vorbei. Wenn wir das "vereinte Europa" bauen wollen, zu dessen Verwirklichung uns schon vor 40 Jahren der Élysée-Vertrag angehalten hat, muss hier und jetzt der deutsch-französische Bund geschaffen werden.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir den beiden Ländern ein wie auch immer geartetes föderales Standardmodell überstülpen wollen. Ein solches existiert auch gar nicht: Alle Erfahrungen in diesem Bereich sind einzigartig, denn sie beruhen auf gemeinsam entwickelten Projekten. Verlieren wir uns also nicht in semantischen Haarspaltereien, sondern konzentrieren wir uns lieber auf das, was wir gemeinsam tun wollen.
Das erste Projekt - die Wirtschaftsunion - ist dank des europäischen Aufbauwerks bereits weit fortgeschritten. Mit groben Vereinfachungen sollten wir ein für allemal Schluss machen: Kein Franzose träumt des nachts von einer Vertiefung des Haushaltsdefizits und kein Deutscher von der Aufwertung des Euro. Vielmehr ist eine gemeinsame Stabilitätskultur inzwischen fest verankert. Machen wir es uns also zur Regel, in allen wirtschaftpolitischen Fragen zu identischen Standpunkten zu gelangen.
Konkret heißt das, dass gemeinsame Leitlinien für die Haushalts- und Steuerpolitik beider Staaten entwickelt und die Steuersysteme einander allmählich angenähert werden sollten. Das würde auch bedeuten, dass Frankreich und Deutschland in den einzelnen Formationen des EU-Ministerrates identische Standpunkte vertreten und dass sie, angefangen bei den Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank, nach und nach in allen internationalen Institutionen abgestimmt handeln.
Wir sind überzeugt, dass man bei der Außen- und Verteidigungspolitik ebenso vorgehen kann. In den letzten Jahren haben sich die Auffassungen unserer beiden Länder angenähert. Künftig sollten wir den Aufbau gemeinsamer deutsch-französischer Streitkräfte, gemeinsamer diplomatischer Außenvertretungen und einer gemeinsamen Interessenvertretung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben.
Beide Projekte wären die einzigen wirklichen "Bundeskompetenzen" des deutsch-französischen Bundes. Für sie gäbe es gemeinsame Institutionen: einen Kongress aus Vertretern beider Parlamente, wöchentliche Sitzungen der Minister, ein ständiges Sekretariat, ein Forum der Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Verbände, NRO) und ein Gremium für die Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften.
Eines sollte klargestellt werden: Mit diesem neuen Bund soll keine Insel ohne Brücken zur Europäischen Union geschaffen werden. Im Gegenteil wären alle EU-Mitglieder, die sich denselben Zielen verschreiben, willkommen. So entstünde eine verstärkte Zusammenarbeit, die nicht auf einige punktuelle Aktionen oder Zufallskoalitionen baut, sondern auf ein echtes politisches Projekt.
Erweiterungskommissar Günther Verheugen
Handelskommissar Pascal Lamy


12, juillet 2006
 
 
 
 
 
 
 

 

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